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  • Herr Polty

Ist das Theater noch zu retten?

Unter diesem Titel präsentierte die Oberstufen-Theater-AG des Eichendorff-Gymnasiums ihre diesjährige Eigenproduktion am Dienstag und Mittwoch letzter Woche. Natürlich hat dieser Titel auch etwas Selbstreferentielles, denn die Produktion ist über zwei Jahre hin entstanden, oft unter erschwerten Corona-Bedingungen (z.B. Proben in jahrgangsgeordneten Kohorten), begleitet von zahlreichen Neubesetzungen der Rollen, weil ein Jahrgang sich mit dem Abitur 2021 verabschiedet hatte, und nur selten in kompletter Besetzung, weil immer wieder Corona-Infektionen die Gruppe ausgehöhlt hatten.

Was sich wie ein großer Nachteil ausnimmt, hatte jedoch den Vorzug zur Folge, dass die Identifikation mit der Rolle nach den knapp zwei Jahren unglaublich hoch war, bei den Aufführungen deutlich spürbar für das begeisterte Publikum.

Der Inhalt: Ein fiktives Stadttheater muss sich nach der Corona-Krise „neu aufstellen“. Die Depot-Bank, die die letzten Jahre das Theater finanziell unterstützt hat, engagiert deswegen eine Consulting-Agentur, die die Effektivität des Theaters überprüfen soll. Unverfroren gibt der Case Team Leader der Unternehmensberater (Luca Fritsch) schon zu Beginn des Prozesses zu: „Wir haben keine Erfahrung mit Theater.“ Und löst dadurch helle Aufregung und Empörung unter den Schauspieler*innen aus, aber sofort schiebt er hinterher: „Das ist eine Chance. Change Management beginnt immer mit einem Perspektivwechsel. Unsere Aufgabe ist es, erstarrte Strukturen ausfindig zu machen, sie aufzuweichen, zu optimieren und Synergien zu ermöglichen.“ So weit, so gut. Das ist Consulting-Sprech. Fortan begeben sich diese beiden unvereinbaren Welten in Evaluations-Tools, ehe als Höhepunkt die finale Aufgabe gestellt wird: „Shakespeares Digest“ - Ein Stück in der Tradition des großen englischen Dramatikers in 15 Minuten. Nach der Aufführung sind sogar die Unternehmensberater*innen begeistert. Allerdings nimmt das Stück dann doch eine sehr pessimistische Wende: Denn bereits vor dem Prozess war klar, dass das Theater komplett abgewickelt ist. Eine der Unternehmensberaterinnen (herrlich diabolisch Anna Pyvovar) hat mit einem Fernsehsender vereinbart, dass der gesamte Evaluationsprozess mit versteckten Kameras aufgezeichnet und demnächst als Doku-Serie in der Reihe „Die letzten Tage von...“ ausgestrahlt wird. Wer dabei sein möchte, wird finanziell entlohnt, wer es ablehnt, wird herausgeschnitten.

Doch der theaterbegeisterte Leiter des Ganzen, Michael Polty, öffnet eine hoffnungsvolle Schneise, indem er den eitlen Schauspieler Hendrik Kirchhoff (mit vollem Pathos: Nils Sigloch) einen Epilog sprechen lässt, der das Theater feiert. Das Stück endet mit Oscar Wildes Sentenz: „Ich liebe es, Theater zu spielen. Es ist so viel realistischer als das Leben.“ Und man hört heraus, dass Polty sagt, er liebe es zu inszenieren und er liebe sein Ensemble.

So erlebt man wunderbare Figuren, typisch für das Theater, vielleicht etwas satirisch zugespitzt, aber immer noch authentisch genug, um sie in der Realität wiederzuerkennen: eine an der Oberfläche freundliche, aber eigentlich nur auf ihre eigene Karriere bedachte Intendantin (Paula Orsolic), die Rampensau (eine „physische Gewalt“: Carlotta Brändle), den offensiven Flirtweltmeister (Nico Siegrist) mit seinem emanzipierten Opfer (tough: Jule Wittmann), die alternativ-gesund lebende Schauspielerin (Mirka Langenhorst macht Quinoa zum Bühnenereignis), die Inspizientin am Rande des Nervenzusammenbruchs (bezaubernd: Eleonora Reuss) und viele mehr.

Das 27köpfige Ensemble unterhält mit großen Gruppenszenen, wartet mit bissigen Monologen auf (Stella Thoma greift mit angsteinflößender Aggression die Consultants an), zeigt in intimen Dialogen Zwischenmenschliches (Matteo Kosina und Klara Nowak brillieren in einem Liebeshass-Monolog; Maya Stamov und Delia Jooß begegnen sich face-to-face als young professionals) und bietet uns mit „Shakespeares Digest“, dem Stück im Stück, ein märchenhaftes Dramulett in selbstverfassten Blankversen, das durch eine wunderbaren Choreografie besticht, in der vor allem die Elfen (mit großer Aura: Sarah Seiler, Leticia Fleck und Emily Zhang) den unendlichen Zauber des Theaters heraufbeschwören.

Als hätte Polty einen Essay über das Theater schreiben wollen, lässt er einen spleenigen intellektuellen Dramaturg auftreten (Elias Peter), der auf der Meta-Ebene den Theater-Diskurs führt. Doch auch das ist nur ein Farbtupfer in dieser bildgewaltigen Produktion: So hat sich zu Beginn, begleitet von Brahms´ Requiem, das Ensemble als „Floß der Medusa“ (Gemälde von Théodore Géricault) formiert. Und immer wenn es zu ernst und bitter wird, erheitern die Bühnenarbeiter (Adrian Freudig, Benedikt Baudenbacher) das Publikum mit ihrer lakonischen Komik, indem sie irgendetwas Absurdes im Hintergrund vorbeitragen.

Hier wird aus dem Vollen geschöpft. Jede Szene schreit dem Publikum entgegen: Das Theater ist zu retten! Und wenn die beiden Schauspieldiven (mondän-arrogant: Maria Palma, mit aristokratischem Dünkel: Samira Agic) darüber debattieren, ob nun die Bühne oder der Film das höhere Metier sei, oder gar die jüdische Regisseurin Rahel Blumenthal den Diskurs, ob es ein jüdisches Theater in Deutschland gebe, strikt ablehnt (berauschend streng: Mia Magschok), glaubt man zunächst, es gehe nur um die großen Fragen. Doch all das wird ausgewogen behandelt, indem auch die existentielle Situation beleuchtet wird, wenn etwa die Theaterpädagogin (Sarah O´Callaghan) sich selbst entlassen muss in einem Rollenspiel, die Requisiteurin (Greta Beilharz) als Opfer der herrischen Assistentin gezeigt wird oder die Maskenbildnerin am Ende rattenhaft das sinkenden Schiff verlässt (Veronika Lubitovsky). Auch die rechtliche Seite wird nicht vergessen, wenn die Agentin (Lea Lumpp als korrekt-schneidige Frau Neidig) der Schauspielerin Hülsmann auf Vertragskonditionen beharrt.

Man merkt dieser Produktion an, dass alle Beteiligten danach gierten, endlich wieder die Bühne zu bespielen. Man konnte eine leidenschaftliche Eruption an Spielfreude und ein Panoptikum an Theatermotiven und -techniken erleben, das gleichermaßen unterhalten und zur kritischen Reflexion animiert hat.

Am Donnerstag, den 07.07., war die Derniere im Sandkorntheater Karlsruhe anlässlich der Schultheaterwoche zu erleben.




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